Leukämie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben eine gemeinsame Ursache
FRANKFURT. Vermutlich findet man bei fast jedem
60-Jährigen Klone mutierter Blutzellen. Je nach Art der Mutation bedeutet das
ein erhöhtes Leukämierisiko. Neu ist, dass mutierte Blutzellen auch
Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen können. Das berichten Forscher der
Goethe-Universität in der aktuellen Ausgabe von „Forschung Frankfurt“.
„Jede Sekunde entstehen im
Knochenmark fünf Millionen neue Blutzellen, die alternde Zellen ersetzen.
Gelegentlich erfährt eine Blutstammzelle eine Mutation, die ihr
Überlebensvorteile bringt, so dass sie mehr direkte Nachkommen erzeugt“,
erläutert der Stammzellenforscher Prof. Michael Rieger, Universitätsklinik
Frankfurt. Die Ansammlung veränderter (mutierter) Zellen nennt man einen Klon;
dessen Entstehung klonale Hämatopoese.
„Nach allem, was wir bisher
wissen, sind die meisten Menschen, bei denen klonale Hämatopoese auftritt,
völlig gesund“, sagt Leukämiespezialist Prof. Hubert Serve, Direktor der Klinik
für Hämatologie und Onkologie an der Universitätsklinik Frankfurt. Aber ganz harmlos
seien diese Klone nicht, denn oft sind die Mutationen identisch mit denen, die
bei Patienten mit Leukämien auftreten. Doch erst durch die Kombination mehrerer
Mutationen wird aus einer harmlosen Blutzelle eine bösartige Leukämiezelle.
Dabei spielen Umweltfaktoren wie Rauchen, Ernährung und Bewegung eine wichtige
Rolle.
Relativ neu ist die Erkenntnis,
dass Menschen mit Genveränderungen im Blut verstärkt an Atherosklerose leiden
und häufiger einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden. Erst vor wenigen
Monaten entdeckte ein interdisziplinäres Team aus Ärzten und Wissenschaftlern
am Universitätsklinikum Frankfurt, dass bei Menschen mit chronischer
Herzinsuffizienz nach einem Infarkt auch gehäuft Klone mutierter Blutzellen
nachweisbar sind. Patienten mit den beiden häufigsten Mutationen hatten eine
deutlich schlechtere Prognose, auch beim Einsatz einer künstlichen Herzklappe
per Katheterverfahren. Der Krankheitsverlauf wurde dabei von der Größe des
mutierten Blutzellklons beeinflusst.
Seitdem arbeiten die
Frankfurter Forscher mit Hochdruck daran, die zugrunde liegenden Mechanismen zu
entschlüsseln. Eine wichtige Rolle scheint dabei das Immunsystem zu spielen.
Einige Mutationen, die zu genveränderten Blutzell-Klonen führen, wirken sich
auch auf die Fresszellen (Makrophagen) des Immunsystems aus. Diese setzen dann
vermehrt entzündungsfördernde Stoffe (Zytokine) frei, was wiederum
Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Atherosklerose, Aortenklappenverengung und
Herzschwäche verschlimmert. Zusätzlich verstärken die Zytokine auch die Bildung
weiterer mutierter Blutzellen, was einen fatalen Kreislauf in Gang setzt.
Inzwischen vermuten die
Forscher, dass die klonale Hämatopoese auch der Grund dafür ist, dass Patienten
nach einer überstandenen Krebserkrankung häufiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen
entwickeln. Denn nach erfolgreicher Leukämie-Therapie bleiben in den meisten
Fällen mutierte Stammzellen zurück. Deshalb gewinnt die kardiologische
Überwachung ehemaliger Krebspatienten zunehmend an Bedeutung.
Momentan werden die mutierten
Blutzell-Klone nur als Begleitbefund bei Patienten mit Bluterkrankungen
festgestellt. Denn mit der zu ihrer Feststellung notwendigen DNA-Sequenzierung
ist ein großer Aufwand verbunden. „Der Test ist zur Früherkennung
von Blutkrebs und für die Prognose von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch erst
dann sinnvoll, wenn vorbeugende Maßnahmen klinisch etabliert sind“, gibt Prof.
Andreas Zeiher, Direktor der Kardiologie am Universitätsklinikum, zu bedenken.
Derzeit suchen die Forscher intensiv nach klinischen Parametern, die auf
klonale Hämatopoese hindeuten.
Eines ist bereits jetzt klar:
die klonale Hämatopoese ist als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
ebenso bedeutend wie Rauchen, Übergewicht und Bluthochdruck. So wundert es
nicht, dass die Forschung auf diesem Gebiet derzeit intensiv betrieben wird und
die Erkenntnisse rasch zunehmen. Im Exzellenzcluster Cardio-Pulmonary
Institute, an dem die Goethe-Universität, die Universität Gießen und das Max
Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung in Bad Nauheim beteiligt sind,
wird als eine der nächsten Fragen untersucht, ob die klonale Hämatopoese auch
zu chronisch-entzündlichen Lungenerkrankungen beiträgt.
Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ (2/2019) kann von
Journalisten kostenlos bestellt werden bei: ott@pvw.uni-frankfurt.de.
Im Web: www.forschung-frankfurt.de.
Informationen: Prof. Dr. Michael Rieger, Medizinische Klinik II, Campus
Niederrad, Tel.: 069: 6301-84297, Email: m.rieger@em.uni-frankfurt.de